Stravinskys „Le Sacre du Printemps“ (Das Frühlingsopfer) ist ein prominenter Einstieg in die unkonventionelle Verwendung von Rhythmen in der Musik des 20. Jahrhunderts. Besonders hervorzuheben ist der Abschnitt „Augurs of Spring„, der mit unvorhersehbaren Betonungen die Hörerschaft seit der Uraufführung im Jahr 1913 gleichermaßen irritiert und fasziniert:
Die Streichergruppen setzen heftige, unregelmäßige Akzente, die zu der archaischen Atmosphäre des Stücks beitragen und es einzigartig und herausfordernd machen …
Sequenz, Auflösung: 1x
Im 2/4 Takt erstreckt sich die besagte Passage über 24 Takte, welche von einem deutlich spürbaren, kontinuierlichen 1/8 Puls durchzogen sind. Auf diesem verteilen sich die Akzente in unterschiedlichen Abständen. Will man diese genau verorten, liegt klassisches Auszählen nahe: Von der Taktstruktur her gedacht ergibt sich: | 1 + 2 + | 1 + 2 + | 1 + 2 + | 1 + 2 + | 1 + 2 + | … etc. Oder man zählt einfach alle 1/8 Pulse von einem Akzent zum nächsten – und erhält: 9, 2, 6, 3, … etc. Bei diesem Ansatz wird von der rhythmischen Phrase her gedacht, die Taktstruktur tritt hier zunächst in den Hintergrund – willkommen in der Welt der südindisch-karnatischen Rhythmik …
Jathi Bhedam
… diese ist als Ganze viel zu komplex für einen Blog-Beitrag. Glücklicherweise habe ich 2018 mit Anushaant N. Wijayan (im Video rechts neben Stravinsky) und weiteren Konnakolleg*innen hier in Essen das Netzwerk Konnakol Deutschland gegründet. In unseren Workshops vermitteln wir Wesentliches davon komprimiert – u.A. auch die sogenannten Jathi Bhedam Technik, welche sich hervorragend für die obige Akzent-Sequenz eignet: 9, 2, 6, 3, … werden als Abfolge einzelner Silben repräsentiert – 3 z.b. als „Ta ki te„, wobei die jeweils erste Silbe als Akzent betont wird. Takt/Metrum wandern in die Hand. Soviel an dieser Stelle zum didaktischen Part.
Auflösung: 2x – zeitlich komprimiert
Nach dieser „Transkriptions-Arbeit“ habe ich mich ferner als Komponist gefragt, was hier strukturell außerdem noch zu tunen sein könnte (Sacre du Printemps kann im Jahre 2021 ja kaum noch provozieren) und gleichsam dem interkulturellen Übersetzungskontext angemessen bleibt:
Die südindisch-karnatische Musik arbeitet exzessiv mit Beschleunigungen bzw. Verlangsamungen längerer rhythmischer Phrasen, bei gleichbleibendem Grundtempo. So verwenden die Techniken Anuloma, Trikala bzw. „Speeds“ oft die Faktoren 1x, 2x, 3x, 4x bzw. 1x, 0.5x, 0.33x, 0.25x.
Ich habe Anushaant gebeten, in unserem zweiten Durchlauf die 24 Takte in doppelter Geschwindigkeit aufzusagen – natürlich ist er damit schon nach der Hälfte der ursprünglichen Zeit fertig, daher wiederholt er es nochmal, während ich konstant-gemächlich die erste Geschwindigkeit „durchspreche“.
Anushaant hat somit doppelt soviele Silben pro Schlag und insgesamt doppelt soviele Akzente. Das sollte erstmal ausreichen um mit ‚Sacre‚ auch heuer noch provozieren zu können – dennoch haben wir zusätzlich per Social Media unsere indische Followerschaft aufgerufen, weitere Geschwindigkeiten (3x, 5x) einzureichen.
Lo-Fi, Hi-Res
Im Februar 2022 erklang diese Stravinsky-Adaption im Kontext meines Portraits im WDR 3 Studio Neue Musik (Sendefolge „Lo-Fi, Hi-Res, Stream – mit und ohne Video“). Kurz vor der Ausstrahlung habe ich schnell noch per audiovisuellem Bitcrusher alle Auflösungen zu Beginn nochmal deutlich runtergeschraubt.
Hier das Resultat (Slide-Komposition No. 118 / 2). Eine Version ohne Bitcrusher findet sich hier auf unserer Webseite: www.konnakol.de