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Das Eine …
2018 hat die Birmingham Contemporarymusic Group gemeinsam mit dem Verein zur Förderung des Jubiläumsprogramms des Karl-Marx Jahres den internationalen Kompositionswettbewerb Marx.Music – Wilde Lieder ausgeschrieben. Gemeinsam mit meiner Komponisten-Kollegin und Sopranistin Elisabeth Anna Maria Kaiser habe ich diesen in der Kategorie SOUNDART mit unserem Stück tetralemmatic roses for a birthday gewonnen. Herzlichen Dank.
Zum 200. Geburtstag haben wir Karl Marx verschiedene Rosen gewidmet, die in Elisabeths Mund als klangliche Filter ihren Gesang modifizierten.
Die wilden Rosengesänge durchlaufen im Stück folgende Kombinationen bzw. Positionen:
- Red Rose – the one
- White Rose – the other
- Red & White Rose – both 1 & 2
- Blackberry Dog Rose – neither 1 nor 2, nor 3 (both)
Dieser Ablauf folgt der Logik des sogenannten Tetralemmas – einer Denkfigur, die hilft, aus dichotomen Situtationen und Dilemmata auszusteigen und sich ungewohnte Perspektiven zu eröffnen. Möglicherweise auch solche zwischen Idealismus und Materialismus (das Konzept ist hier zu lesen).
Es wurde bereits viel Aufwand betrieben, um das Tetralemma mit Mitteln der klassischen Logik zu erklären, was zwangsläufig unbefriedigend bleiben muss. Auch nicht-klassische Ansätze wie dreiwertige Logiken, Modallogik oder Relevanzlogik wurden herangezogen – letztlich bleibt eine irrationale bzw. mystische Interpretation. Trotzdem hat uns das Tetralemma nach den ersten vier Rosen-Kombinationen zu folgendem Ende im Stück geführt:
- Raag! – not (neither 1 nor 2, nor 3 (both) – context jump: the creation
Das Andere …
Meine Recherchen zum Tetralemma ergaben, dass es in der oben verwendeten Form aus der altindischen Philosophie stammt und dort im antiken Rechtswesen praktisch angewendet wurde, um mögliche Standpunkte zu klären.
Wenige Wochen vor der Preisverleihung des Karl Marx Preises in Trier hatte ich im Hindu-Tempel Schwerte in Nordrhein-Westfalen zudem die Gelegenheit, einen südindisch-tamilischen Priester nach den Wurzeln des Tetralemmas zu befragen. Er verortete sie primär im Polytheismus.
An jenem Tag war ich vom Percussion-Virtuosen Anushaant Nayinai Wijayan eingeladen worden, in diesem Tempel ein klassisch karnatisches Stück, sprechend per Konnakol Silben, zu performen:
Beides …
Kurz darauf, im Herbst 2018, hielten wir unsere erste gemeinsame Veranstaltung Tetralemma Klang I an der Tamil Cultural Fine Arts Academy Germany ab. Es war eine Mischung aus einem fortgeschrittenen Rhythmus-Workshop, einem klassisch südindischen Konzert sowie Einlagen Neuer Musik. Dabei gaben wir unter anderem Einblicke in Conlon Nancarrows polytemporale Finessen, demonstrierten Frank Zappas n-Tolen-Virtuosität in The Black Page und präsentierten meine Klanginstallation Tetralemma Noise:
‚Tetralemma Klang I‚ war die Initial-Veranstaltung für unser Netzwerk Konnakol Deutschland, mit dem wir seitdem zahlreiche Rhythmus Workshop-Formate in verschiedensten Kontexten abgehalten haben.
Keines von Beiden …
Als Komponist interessiert mich diese 4. Position des Tetralemmas am meisten:
- „Das Eine“ (meine Wurzel in der Neuen Musik) kenne ich bereits
- „Das Andere“ ist das völlig Unbekannte, an dem ich wachse und mich neu definieren muss
- „Beides“ erfordert einen verantwortungsvollen Dauer-Balanceakt zwischen klaren Positionen. Beziehungsarbeit.
- „Keines von Beiden“ stellt die eigentliche kreative Herausforderung dar …
… welche ich schließlich in meinem transmedialen Musiktheater Score of Influence gefunden habe. Das Tetralemma lebt darin aktiv weiter – wer zoomt, der findet:
nicht (Keines von Beiden)
Die letzte, 5. Position des Tetralemmas, die doppelte Verneinung, ist ein optionaler Erkenntnisgewinn – ein tiefgreifender Perspektivwechsel durch die Rückschau auf die durchlebten Tetralemma Positionen 1 bis 4. Für mich bewegt sich das irgendwo zwischen Esoterik und gesundem Menschenverstand.