Fluglinien der Singularität

Inhalt:

Die vielbeschworene technologische Singularität, jener Kipppunkt, an dem künstliche Systeme autonomer werden als ihr Schöpfer, mag früher – oder zumindest anders – eintreten, als viele erwarten. Ihre Anzeichen sind jedenfalls gegenwärtig: in der Überlagerung von realer Erfahrung und künstlicher Rekonstruktion, in der Verwischung von Wirklichkeit und Simulation, in der wachsenden Fragilität unserer Deutungshoheit.

WINKLER.SINGULARITY ist ein Projekt, das an dieser Nahtstelle operiert – im offenen Dialog zwischen Körper, Maschine und Geist: Auditive, visuelle, künstlich-intelligente und interkulturelle Systeme entwickeln durch Rückkopplung, Transkription, Lernen und Intuition eine eigene Sprache, die entlang gemeinsam durchlebter Narrative von der Vertrautheit einer taktilen Arithmetik erzählt – inklusive aller Dramen.

Eine taktile Arithmetik, ein Denken in Puls und Muster gespeist aus karnatischer Zähltechnik und kontrastiert durch expressive Bildwelten. Daraus entstehen Publikationen in Form von Installationen, Konzerten, Drucken, Software sowie interdisziplinären Kollaborationen.


Narrativ zweier Kontrollverluste

Die Geschichte hinter der ersten Werkserie Finite Counting Scams (70 × 100 cm) begann nicht in einem Atelier oder Labor, sondern auf der Straße:

Im Jahr 2023, auf dem Rückweg von unserer Konnakol.de Masterclass mit B.C. Manjunath im Kunsthaus Essen, verunglückte ich mit einem E-Scooter durch einhändiges Beschleunigen: Der Aufprall kam schnell. Ich erinnere mich nur an einen kurzen Moment von Kontrollverlust – der eigentliche Flug ist meinem Gedächtnis entzogen. Meine Hände, blutig aufgeschlagen, erzählten den Rest. Zu Hause begann ich, zwischen Erinnerung und Leerstelle zu interpolieren. Ich fertigte eine Bleistiftzeichnung vom Moment des Balanceverlusts an, variierte sie mit einer Bild-KI (DALL·E 2), zeichnete die Variationen erneut ab, speiste sie wieder ein:

Schritt für Schritt entstand so ein Zyklus aus menschlicher Geste und maschinischer Interpretation – bis sich ästhetisch resonante Resultate zeigten, die ich manuell collagierte. Den Moment des eigentlichen Flugs – der mir unzugänglich blieb – ließ ich von der KI autonom generieren. (Dieser künstlerische Prozess ähnelte Methoden der Kunsttherapie: Der Versuch, durch äußere Bilder innere Bilder zu stimulieren, zu rekonstruieren, sichtbar zu machen)

Im selben Jahr erlebte ich eine zweite Form von Kontrollverlust:
Ein vermeintlicher Telekom-Techniker verschaffte sich Zugang zu meiner Wohnung und versuchte, mich mit einer fragwürdigen Zeichnung am Küchentisch zu überzeugen, mein Modem bald auszutauschen, da es sonst aufgrund neuer Leitungen zu Problemen kommen würde. Ich erkannte den Möchtegern Deep-Fake rechtzeitig, und warf den Betrüger hinaus – doch die Zeichnung selbst blieb. Ich nutzte sie später als künstlerisches Material: als Dokument einer manipulierten Realität. Es wurde von da an als gleichwertige grafische Schicht in die Collagen einverwoben.


Wahrheit abtasten

Es begegnen sich hier also zwei unterschiedliche Arten von Scheinwelten:

  • Beim E-Scooter-Unfall erzeugte die Rekonstruktion der Situation eine anschlussfähige Erweiterung meiner Erfahrung.
  • Beim Scamming-Versuch diente die Zeichnung der Verzerrung der Wirklichkeit, der bewussten Täuschung.

Beide Erlebnisse führten zum gleichen Grundmotiv: Vertrauensgewinn auf der einen Seite, Vertrauensverlust auf der anderen. Der Unterschied liegt in der Transparenz der jeweiligen Entstehungsprozesse und in der Intention. Diese Erfahrungen führten zu einer zentralen Frage in meiner Arbeit:
Wie lassen sich Medien, Erlebnisse und maschinelle Prozesse auf Wahrheit abtasten?

Der Drang zur „Vermessung der Wahrheit“, zur Strukturierung von Eindrücken über die Zeit, führte mich zur Entwicklung meiner Software Tupletmachine – ein Programm, das u.a. visuelle Metronome generiert, um südindisch-karnatische Rhythmustechniken im Puls der Gegenwart zu verankern. Tatsächlich tasten Finger in dieser traditionellen „Zähltechnik“ metrische Kontexte ab (zu lernen in unseren Workshops).

In WINKLER.SINGULARITY geht es weder um die Flucht in Tradition noch um die Flucht in Innovationshetze. Sondern um die tetralemmatische Suche nach einer frischen Bewegung: einer offenen, kontrollierten Instabilität, in der Körper, Maschine und Geist in einen tatsächlichen Dialog treten können. Die mediale Unendlichkeit, in der wir heute leben – Bildfluten, KI-generierte Welten, Auflösung von Urheberrechten und Authentizität – fordert nicht nur neue Werkzeuge. Sie fordert ein neues Verhältnis zur eigenen Wahrnehmung, zu Deutungshoheit und Vertrauen.

WINKLER.SINGULARITY beklagt diese Fragilität nicht, sondern erforscht sie künstlerisch: Eigensteuerung, Fake, Kontrollverlust und Vertrauensbildung sind gleichwertige Bewegungen in einem offenen Raum, der niemals ganz geschlossen werden kann. Und vielleicht, am Ende, liegt gerade darin die Chance: Dass wir nicht länger nach festen Gewissheiten suchen müssen – sondern lernen, die Zwischenräume der Singularität bewusst zu durchleben.